FIRST PRINCIPLES THINKING

Der erfolgreiche Testflug des Starship zeigt, dass die oft belächelte Strategie Elon Musks für SpaceX aufzugehen scheint. Bekanntlich will Musk mit riesigen, wiederverwendbaren Raketen die Raumfahrt revolutionieren. Am letzten Sonntag, dem 13. Oktober 2024, absolvierte das grösste Raketensystem der Geschichte seinen erfolgreichen fünften Testflug. Bei Sonnenaufgang (Ortszeit) hob die Rakete vom Weltraumbahnhof in der Nähe von Boca Chican (Texas) nahe der mexikanischen Grenze ab, und eine Stunde später landete die 71 Meter lange Startstufe wieder auf der Rampe, wo sie gestartet war. Allerdings war die Geschichte des Starship von Fehlschlägen und Misserfolgen gekennzeichnet. Ein ums andere Mal explodierten die Raketen – bis am Sonntag. Erst da vollführte das neue Raumschiff erfolgreich ein beeindruckendes Manöver. Die Antriebsrakete katapultierte das Raumschiff in die Höhe und landete dann zum ersten Mal zielgenau wieder auf der Startrampe, wo sie von Greifarmen aufgefangen wurde. Die Raumkapsel, das eigentliche Starship, wasserte nach einem Flug um die halbe Erdkugel im indischen Ozean. Ganz wie geplant. Die Strategie von SpaceX, iterativ aus Fehlern zu lernen, ging somit auf. Die Fehlschläge der letzten Jahre waren tatsächlich genauso bedeutsam wie der spektakuläre Erfolg am Sonntag. Und es gibt allen Grund anzunehmen, dass es mit dem kontinuierlichen Fortschritt weitergehen wird. Das erklärte Ziel von Elon Musk ist es, mit dem Starship schon in der nahen Zukunft Menschen zum Mond und schliesslich zum Mars zu bringen. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Doch Momente wie vor einer Woche zeigen, dass man sich Schritt für Schritt den grossen Zielen nähert.

Im Jahr 2002 begann Elon Musk mit seinem Vorhaben, die erste Rakete zum Mars zu schicken – eine Idee, aus der später das Luft- und Raumfahrtunternehmen SpaceX entstand. Elon Musk steht jedoch gleich zu Beginn vor einer grossen Herausforderung. Nachdem er eine Reihe von Luft- und Raumfahrtunternehmen auf der ganzen Welt besucht hatte, stellte er fest, dass die Kosten für den Kauf einer Rakete astronomisch hoch waren – bis zu 65 Millionen Dollar. Angesichts des hohen Preises begann er, das Problem zu überdenken. «Ich neige dazu, Dinge aus physikalischer Perspektive anzugehen», sagte Elon Musk in einem Interview. «Die Physik lehrt einen, von Grundprinzipien aus zu argumentieren, statt analog zu denken. Also sagte ich: Okay, schauen wir uns die Grundprinzipien an.» Entsprechend fragte er sich: «Woraus besteht eine Rakete? Aus Aluminiumlegierungen in Luftfahrtqualität sowie etwas Titan, Kupfer und Kohlefaser. Dann fragte ich, welchen Wert diese Materialien auf dem Rohstoffmarkt haben. Es stellte sich heraus, dass die Materialkosten einer Rakete etwa zwei Prozent des üblichen Preises betrugen.» Anstatt eine fertige Rakete für zig Millionen zu kaufen, beschloss er daher, sein eigenes Unternehmen zu gründen, die Rohstoffe billig einzukaufen und die Raketen selbst zu bauen. SpaceX war geboren. Innerhalb weniger Jahre hatte das Unternehmen die Kosten für den Start einer Rakete um fast das Zehnfache gesenkt und trotzdem noch Gewinn gemacht. Dabei nutzte Elon Musk das sogenannte FIRST PRINCIPLES THINKING, um die Situation auf das Wesentliche herunterzubrechen, die hohen Preise der Luft- und Raumfahrtindustrie zu umgehen und eine effektivere Lösung zu finden.

Beim Denken nach den Grundprinzipien des FIRST PRINCIPLES THINKING geht es darum, einen Prozess auf die grundlegenden Teile zu reduzieren, von denen man weiss, dass sie wahr sind, und von dort aus weiterzumachen. Bei einem Grundprinzip handelt es sich dabei um eine Annahme, die nicht weiter abgeleitet werden kann. Der französische Philosoph und Wissenschaftler René Descartes verfolgte diesen Ansatz mit einer Methode, die heute als «Cartesischer Zweifel» bezeichnet wird. Hierbei zweifelte Descartes an allem , was er nur anzweifeln konnte, bis er nur noch das übrig hatte, was er als völlig unzweifelhafte Wahrheiten ansah. Dies ist, kurz gesagt, der Prozess des Denkens nach Grundprinzipien. Es handelt sich um einen Zyklus, bei dem eine Situation in ihre Kernbestandteile zerlegt und diese dann auf effektivere Weise wieder zusammengefügt werden. Descartes nutzte hierbei selbstverständliche Sätze als Axiome oder Grundlagen und leitete daraus sein gesamtes Wissen ab. Bei seinem berühmten Satz «Cogito ergo sum», den er als das erste Prinzip der Philosophie, nach der er suchte, bezeichnete, handelt es sich um eine evidente, unbezweifelbare Tatsache, mithin einen archimedischen Punkt, bei dem lediglich vorausgesetzt wird, dass die Existenz der Wirklichkeit dem Denken dieser Wirklichkeit vorausgeht.

In praktischer Anwendung hat das FIRST PRINCIPLES THINKING eine Reihe beeindruckender Innovationen hervorgebracht. Elon Musk, der Gründer von SpaceX und Tesla, ist sicher einer der bekanntesten Anwender dieser Methode. Aber auch andere Unternehmen und Branchen nutzten in der Vergangenheit diesen Denkansatz, um sich erfolgreich auf dem Markt zu positionieren. Netflix, zum Beispiel, in den frühen 2000er Jahren gegründet, war ursprünglich ein DVD-Verleihdienst per Post. Doch die Gründer erkannten, dass der Markt für DVDs begrenzt war und dass Streaming das Potenzial hatte, die Art und Weise zu verändern, wie wir Filme und Serien konsumieren. Durch das Anwenden von FIRST PRINCIPLES THINKING gelang es Netflix, eine revolutionäre Plattform für Streaming-Inhalte aufzubauen. Die Gründer von Airbnb, Brian Chesky und Joe Gebbia, nutzten FIRST PRINCIPLES THINKING, um Reisenden neue Möglichkeiten für ihren Urlaubsaufenthalt zu bieten. Sie erkannten, dass viele Menschen bereit waren, ihr Zuhause mit anderen zu teilen, um zusätzliches Einkommen zu erzielen. So stellten die beiden eine Plattform zur Verfügung, die heute Millionen von Menschen nutzen, um ihre Wohnungen und Häuser zu vermieten oder gezielt nach kostengünstigen Unterkünften zu suchen. Ähnliches gilt für das US-amerikanische Dienstleistungsunternehmen Uber, das durch das Anwenden von FIRST PRINCIPLES THINKING eine neue Art von Transportdienstleistungen schaffte, das den Markt auf den Kopf stellte. Dass es sich bei den drei genannten Unternehmen so wie auch beim Onlineversandhändler Amazon um disruptive Innovationen handelt, die das Potenzial haben, etablierte Produkte und Unternehmen teilweise oder vollständig zu ersetzen, indem sie die analoge Welt mit der digitalen verknüpfen, bedarf der Erwähnung nicht. Gleichwohl gilt es auch in diesem Zusammenhang zu bedenken, dass westliche Industrienationen nur noch so wirtschaftlich wachsen und für die Zukunft vorsorgen können. Angesichts der übergrossen Verschuldung und der ungünstigen demografischen Entwicklung bleibt letztlich allein die digitale Transformation, um Wirtschaftswachstum zu generieren.

Christoph Frei, Akademisches-Lektorat, CH-8032 Zürich

Bild:
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