Was schützt vor der Realität?

Das Wunder des Monumentaldramas «Die letzten Tage der Menschheit» des Wiener Schriftstellers Karl Kraus gründet im Umstand, dass die Wirkung des im Dezember 1918 erschienenen Theaterstücks bis heute nachhallt. Auch wenn der Text für die Bühne zu komplex ist, entfaltet er noch immer seine grosse Kraft, die vor allem jene spürten, die ins Visier des Autors gerieten. Weder Erich Maria Remarque noch Ernst Jünger schilderten das Grauen des Ersten Weltkriegs mit einer derartigen Schonungslosigkeit. Bei Karl Kraus prallt der ganze Irrsinn in einer Art riesigen Kollage von 220 Szenen mit ungezählten Schauspielern aufeinander: Soldaten, die Gegner zu Krüppeln schossen; Kaiser, und Offiziere, die zwar vom Geschehen an der Front so viel Ahnung hatten wie eine Katze vom Bellen, aber trotzdem Entscheidungen quasi nebenher fällten, die unzähligen Menschen das Leben kosteten. Ausserdem waren da noch die gewissenlosen Journalisten, denen alles nicht blutrünstig und martialisch genug zugehen konnte und die hinterher selbstredend nur in bester Absicht versucht hatten, ihrer Pflicht als Berichterstatter nachzukommen. Interessanterweise besteht das Werk in der Hauptsache aus Originalzitaten, doch der der Autor wob auch fiktive Kommentatoren ein, um das Panoptikum des Schreckens komplett zu machen; deshalb entfaltet die Schrift ihre ganze Wucht, wenn man sie liest. Vermutlich war es das, worauf der Autor spekulierte: Seine Formulierungskunst, die er in seiner Zeitschrift «Die Fackel» auslebte, eine von 1899 bis 1936 herausgegebene satirische Zeitschrift, unter dessen aufklärerischem Namen bald nur noch einer publizierte, nämlich Karl Kraus selbst. Während des Ersten Weltkrieges ist bei dem Autor ein deutlicher Schwenk in der Perspektive zu verzeichnen: War Kraus bis 1916 als Grossbürgersohn im Zweifel kaisertreu gewesen, las man später eine nicht zu verkennende Sympathie für Liberale und Sozialdemokraten in seinen Texten. Offenbar hat er es den gesellschaftlichen Eliten nicht verziehen, das Schlachten in Europa zugelassen zu haben. Naturgemäss wurden «Die «Fackel» wie auch sein theatralisches Weltgericht zensiert. Zwar ist das Gegenteil von Zensur die Informationsfreiheit, doch schützt die Zensur vor der Realität.

Ganz im Sinne der Europäische Union, die X-Chef Elon Musk zur Zensur zwingen will, worauf dieser öffentlich macht, was man seit langem befürchtet: Brüssel greift nach der Meinungsfreiheit. Genauer hat der US-Multi-Unternehmer und Chef der Online-Plattform Twitter, heute X, auf ebendieser Plattform bekannt gemacht, dass die Europäische Kommission X ein illegales Geheimabkommen angeboten hat. Sollte X, so Elon Musk, stillschweigend Meinungsäusserungen zensieren, ohne jemandem davon zu erzählen, dann werde man dem Unternehmen keine Strafzahlungen auferlegen. Wundern darf man sich darüber nicht, zumal die EU-Kommission unter Ursula von der Leyen eine ganze Reihe von Massnahmen initiiert hat, die zumindest potenziell dazu angetan sind, die Meinungsfreiheit einzuschränken und Europas Bürger zu überwachen. Mit dem Digital Services Act, mit dem Brüssel nun gegen X vorgeht, versucht man Onlinedienste unter Kontrolle zu bekommen, um gegen «Hassrede» und «Desinformation» vorzugehen, beides doch eher unscharfe Begriffe, die der Zensur Vorschub leisten könnten. Ausserdem soll mit der bisher noch nicht verabschiedeten Chatkontrolle die anlasslose Massenüberwachung der Internet-Kommunikation aller europäischen Bürger installiert werden. Allem Anschein nach will das Wahrheitsministerium der EU der Diskurshoheit von Europas Bürgern den Mund verbieten und greift daher nach der Meinungsfreiheit, um so seine Bürger vor der Realität zu schützen.

Christoph Frei, Akademisches Lektorat, CH-8032 Zürich